Corona

Pressemeldung BL: »Erster Toter in Göttinger Corona-Hotspot«

Nachfolgend dokumentiert die Pressemeldung der Basisdemokratischen Linke vom heutigen Montag, 22.6.2020 um 9:30 Uhr.

Updates s.u.:

1. 22.6.2020 13:25: Stadt Göttingen gesteht nun Toten ein
2. 22.6.2020 13:30 Weiterführende Berichterstattung
3. 22.6.2020 14:25 Polizei: Keine Klärung der Todesursache
4. 30.11.2023 Urteil: Corona-Abriegelung von Göttinger Wohnblock rechtswidrig


Erster Toter in Göttinger Corona-Hotspot: Schutzmaßnahmen für Bewohner*innen und grundsätzlicher Wandel der Wohnungspolitik gefordert

Wie erst jetzt bekannt wurde, hat es in dem nach einem Corona-Ausbruch abgeriegelten Wohnkomplex in der Groner Landstraße in Göttingen bereits am Samstag einen ersten Todesfall gegeben. Die Basisdemokratische Linke Göttingen, die am gleichen Tag eine Kundgebung vor dem Gebäude organisiert hatte, fordert angesichts der dramatischen Situation schnelle Schutzmaßnahmen für die Bewohner*innen sowie einen grundlegenden Wandel der städtischen Wohnungspolitik.

Wie Bewohner*innen ebenso wie eingesetzte Feuerwehrleute übereinstimmend berichten, ist am Samstag Nachmittag im zweiten Stock des Gebäudes ein Mann verstorben. Laut Auskunft von Bewohner*innen hatte dessen Lebensgefährtin zuvor am von der Stadt installierten Absperrungszaun eindringlich um Hilfe gerufen, da der Mann unter schwerer Atemnot litt. Rettungskräfte trafen allerdings erst etwa eine Stunde später ein. Zu diesem Zeitpunkt zeigte der Verstorbene keine Lebenszeichen mehr. „Bislang ist nicht geklärt, ob der Bewohner an Covid-19 gestorben ist. Offensichtlich war es für seine Lebensgefährtin in der von der Stadt geschaffenen Abschottungssituation aber unmöglich, Zugang zu dringend benötigter medizinischer Hilfe zu erlangen. Es ist daher durchaus von einem engen Zusammenhang dieses Todesfalls mit der von der Stadt verhängten Isolation auszugehen“, so Lena Rademacher für die Basisdemokratische Linke.

Die Basisdemokratische Linke fordert die Stadtverwaltung auf, das repressive Vorgehen gegen die Bewohner*innen des Komplexes umgehend zu beenden und stattdessen endlich auch deren gesundheitliche Belange zu berücksichtigen. „Wenn Herr Köhler und Frau Broistedt nicht die Verantwortung für weitere Tote tragen wollen, müssen sie ihre Politik jetzt massiv ändern“, so Rademacher: „Die Stadt Göttingen hat 700 Personen in einem Gebäude eingesperrt, in dem ein effektiver Schutz vor Ansteckung unmöglich ist. Dabei setzt sie hunderte bisher nicht erkrankte Bewohner*innen bewusst dem Risiko einer potentiell tödlichen Infektion aus. Wer negativ getestet wurde und eine Unterbringung an einem anderen Ort wünscht, muss hierfür sofort die Möglichkeit erhalten. Die Stadt muss hierfür angemessene Unterkünfte zur Verfügung stellen und dafür ggf. auch Hotels, Leerstand und andere geeignete Räumlichkeiten beschlagnahmen. Es ist eine Farce, dass die Stadt einerseits in Form freiheitsentziehender Maßnahmen einen massiven Grundrechtseingriff vornimmt und andererseits die Evakuierung schutzbedürftiger Personen davon abhängig macht, ob Hotelbetreiber*innen freiwillig Zimmer zur Verfügung stellen.

Sich in dieser Weise aus der Verantwortung zu stehlen und private Eigentumsinteressen über alles zu stellen, ist leider nur die konsequente Fortsetzung der bisherigen Wohnungspolitik“, stellt Rademacher fest: „Die Stadt Göttingen hat die Wohnraumversorgung komplett dem Markt überlassen. Wenn daraus resultierende Missstände öffentlich werden, macht man es sich bequem und verweist auf die Zuständigkeit der jeweiligen Besitzer*innen. Die völlig unzureichenden Wohn- und Lebensbedingungen, die so entstehen, sind nicht nur im Alltag für die Bewohner*innen schwer erträglich, sondern begünstigen auch massiv ein Ausbruchsgeschehen wie wir es augenblicklich beobachten können.“ Die Basisdemokratische Linke fordert daher seit langem, die Wohnraumversorgung dem Markt zu entziehen und Wohnraum in öffentlicher Hand zu schaffen, der der demokratischen Kontrolle der Bewohner*innen unterworfen ist. „Ebenso wie Aktivist*innen in vielen anderen Städten fordern wir die Vergesellschaftung von Wohnraum. Nur so lassen sich menschenwürdige Wohnbedingungen für Alle sicherstellen. Unser Ziel ist es zudem, Bewohner*innen selbst die Entscheidungsgewalt über ihre Lebensumstände zu ermöglichen. Das steht in deutlichem Widerspruch zum Agieren der Stadt, die gegenwärtig mit einem Teil ihrer Einwohner*innen mal wieder wie mit bloßer Verfügungsmasse umgeht. Die Notwendigkeit, einen grundlegenden Wandel sowohl hinsichtlich der Wohnraumversorgung wie auch bezüglich der städtischen Politik insgesamt durchzusetzen, zeigt sich in der aktuellen Situation umso dringlicher“, so Rademacher abschließend.

Updates

1. Update 13:25 Frankfurter Rundschau:

»Die Stadt Göttingen hat einen Todesfall in dem unter Quarantäne stehende Hochhauskomplex bestätigt. […] Bei einer Untersuchung sei er [Anmerkung: der Tote] negativ getestet worden.«

Quelle: https://www.fr.de/panorama/corona-coronavirus-deutschland-reproduktionszahl-steigt-stark-rki-zr-13793431.html

Kommentar:
Das mit »Untersuchung« lediglich die vorangegange allgemeine Testung gemeint ist, ist wahrscheinlich. Ob eine Obduktion des Toten angeordnet wurde, die sowohl Todesursache als auch Todeszeit u.U. aufklären kann, entzieht sich noch meiner Kenntnis, da Polizei Göttingen und Staatsanwaltschaft Göttingen sich bisher nicht geäussert haben.

2. Update 13:30 evangelisch.de

»Der 1977 geborene und unter einer Vorerkrankung leidende Mann sei in der Nacht zum Sonntag gestorben, teilte ein Sprecher der Stadt am Montag mit. Er sei allerdings nicht mit dem Coronavirus infiziert gewesen. Bei einer Untersuchung sei er negativ getestet worden.«

Quelle: https://www.evangelisch.de/inhalte/171685/22-06-2020/stadt-goettingen-toter-im-corona-hotspot-war-nicht-infiziert

Kommentar:
Damit widerspricht der namentlich nicht genannte Sprecher der Stadt Göttingen mit »in der Nacht zum Sonntag gestorben« der Basisdemokratischen Linken die schreiben »ist am Samstag Nachmittag im zweiten Stock des Gebäudes ein Mann verstorben«. Damit ist der Todezeitpunkt strittig.

3. Update 14:25 Polizei Göttingen

Guten Tag, hierzu können wir mitteilen, dass die Staatsanwaltschaft Göttingen den Leichnam des Mannes heute Mittag freigegeben hat. Eine rechtsmedizinische Untersuchung wurde nicht angeordnet. /*jk

Quelle: https://twitter.com/Polizei_GOE/status/1275041538515574784

Kommentar:
Die Todesursache und Todeszeitpunkt sind in der Öffentlichkeit strittig. Warum eine Obduktion zur Feststellung der Todesursache und zur Rekonstruktion des Sterbevorgangs nicht durchgeführt verstehe ich nicht.

4. Update 30.11.2023:

Wie mehrere Medien und der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam am heutigen 30. November 2023 einhellig berichten, wurde die Corona-Abriegelung in der Groner Landstraße 9 a/b im Jahr 2020 vom Göttinger Verwaltungsgericht heute als rechtswidrig verurteilt. Die Klage richtete sich nicht gegen Corona-Massnahmen, sondern gegen die allgemeine Freiheitsentziehung von etwa 700 Anwohner*innen durch Bauzäune und die Abriegelung des Wohnkomplexes unter Einsatz von Gewalt durch die Göttinger Polizei. Geklagt hatte eine Familie die mit ihren 9 und 3 Jahre jungen Kindern von der mehrtägigen Freiheitsentziehung betroffen waren.

Urteil: Corona-Abriegelung von Göttinger Wohnblock rechtswidrig

NDR:

Im Juni 2020 hatte die Stadt Göttingen den Wohnkomplex mit Bauzäunen abriegeln und rund eine Woche von der Polizei bewachen lassen, um die Quarantäne sicherzustellen. 120 der rund 700 Bewohner hatten sich mit dem Coronavirus infiziert. Doch durch die Maßnahme seien die Grundrechte der Wohnblock-Bewohner verletzt worden, da diese sich nicht frei bewegen konnten, urteilte das Verwaltungsgericht am Donnerstag.

https://www.goettinger-tageblatt.de/lokales/goettingen-lk/goettingen/groner-landstrasse-9-in-goettingen-quarantaene-des-gebaeudes-war-rechtswidrig-WIG2FTKTTNCSZFQTGNMKIIATQY.html Memento:

GT:
Groner Landstraße 9: Absperrung während Corona-Pandemie war rechtswidrig

Pressemitteilungen der Kanzlei Sven Adam:

Das Verwaltungsgericht (VG) Göttingen hat nach einer mündlichen Verhandlung am heutigen Tag in dem Verfahren zu dem Az.: 4 A 212/20 die Freiheitsentziehung durch eine Umzäunung und polizeiliche Bewachung des Gebäudekomplexes in der Groner Landstraße 9-9b in Göttingen während der Corona-Pandemie für rechtswidrig erklärt. Für die mehrere Tage andauernde und von der Stadt Göttingen angeordnete Umzäunung gäbe es keine Rechtsgrundlage und der sog. Richtervorbehalt sei nicht eingehalten worden, so das Gericht in der mündlichen Urteilsbegründung.

Geklagt hatten ein seinerzeit 38 und 31 Jahres altes Ehepaar mit ihren 9 und 3 Jahre jungen Kindern. Angegriffen wurde nicht die Quarantäneanordnung durch eine Allgemeinverfügung der Stadt Göttingen vom 18.06.2020 an sich, wonach sich alle in dem Gebäudekomplex aufhältigen Personen aufgrund des dortigen Infektionsgeschehens für die Dauer von 7 Tagen in eine „häusliche Absonderung“ begeben sollten. Streitgegenstand war vielmehr die in Amtshilfe für die Stadt Göttingen polizeilich durchgeführte Umzäunung des Komplexes und die damit einhergehende Freiheitsentziehung. Die Anordnung hatte zunächst weder Ausnahmen noch die Möglichkeit, durch den Nachweis negativer Corona-Tests den Komplex zu verlassen, enthalten.

Für eine derartige Maßnahme sieht das in Anspruch genommenen Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Rechtsgrundlage vor. Eine „Absonderung“ nach § 30 Abs .1 IfSG soll in der Regel in einem geeigneten Krankenhaus erfolgen. Lediglich für „Quarantänebrecher“ ist in § 30 Abs. 2 IfSG eine Rechtsgrundlage für eine zwangsweise Unterbringung in einem Krankenhaus oder in einer anderen geeigneten abgeschlossenen Einrichtung vorgesehen. Dies setzt aber einen vorherigen richterlichen Beschluss voraus.

„Die Entscheidung des VG Göttingen setzt Grenzen im Sinne des Grundrechtsschutzes und hat weitreichende und grundsätzliche Bedeutung für die Rechtsentwicklung und den zukünftigen Umgang mit Gebäudekomplexen in Pandemielagen.“ führt Rechtsanwalt Sven Adam aus, der die Kläger*innen vor Gericht vertreten hat. „Die Stadt Göttingen hat wesentliche verfahrensrechtliche Anforderungen nicht erfüllt und damit erheblich und rechtswidrig in die Grundrechte der betroffenen und ohnehin sozial marginalisierten Bewohner*innen des Gebäudekomplexes eingegriffen. Eine solche Maßnahme hätte auch trotz der pandemiebedingt dynamischen und sowohl tatsächlich als auch rechtlich schwierigen Lage in dieser Form niemals durchgeführt werden dürfen. Hier wäre mehr Hilfe statt Einsperren angebracht gewesen.“ so Adam weiter.

https://anwaltskanzlei-adam.de/2023/11/30/pm-verwaltungsgericht-goettingen-erklaert-mehrtaegige-freiheitsentziehung-durch-umzaeunung-des-gebaeudekomplexes-in-der-groner-landstrasse-9-9b-in-goettingen-waehrend-der-corona-pandemie-fuer-rechtsw/

Kommentar:
Die freiheitsentziehenden Maßnahmen im sogenannten Bunker wurden seinerseits vielfach im Netz von extremen Rechten und weiteren Personen mit rassistischem Hasskommentaren die sich gegen alle Anwohner*innen richteten begrüßt. Ermittlungen durch die unter der damaligen Justizministerin Barbara Havliza (CDU) in Göttingen bei der StA. am Waageplatz eingerichtete ZHIN (Zentralstelle Hasskriminalität im Internet) gab es gegen die Flut an Hass keine. Der damals verantwortliche Göttinger Polizeipräsident war Uwe Lührig (CDU), er wurde, unter großem Bedauern im Netz durch u.a. extreme Rechte, am 23. Februar 2021 in den vorzeitigen Ruhestand geschickt – die wegen der Entlassung mit Hass und Drohungen gespickten Kommentare richteten sich damals gegen den niedersächsischen Innenminister (heute Bundesverteidigungsminister) Boris Pistorius (SPD) der Lührig überraschend geschasst hatte.

Beitragsbild: Eigenes Bild. Aufnahmedatum 20.6.2020, 16:15 Uhr