Demonstrationen

Dokumentiert: Rede der jüdischen Hochschulgruppe Göttingen an der Hanau Gedenkdemonstration vom 19. Februar 2021 in Göttingen

Rede der jüdischen Hochschulgruppe Göttingen an der Hanau Gedenkdemonstration vom 19.2 in Göttingen

  • Hamburg – der Täter schlägt einem jüdischen Mann vor der Synagoge ein Spaten über den Kopf. Er trägt ein Hakenkreuz bei sich – psychisch krank, kein antisemitisches oder rechtsextremes Motiv sagt die Staatsanwaltschaft.
  • Halle – der Täter versucht am höchsten jüdischen Feiertag in einer Synagoge und anschließend in einem Imbiss jüdische und muslimische Menschen zu erschießen, zwei Menschen kommen ums Leben – auch hier soll der Täter psychisch krank sein und nicht rechtextrem was vorallem die AFD nochmal betont.
  • Hier in Göttingen, antisemitische Nachrichten und Hakenkreuzsymbole werden vor die Synagoge geworfen.. die Polizei reagiert schnell – eindeutig ein psychisch Kranker und eine antisemitische Straftat ist auch hier nicht zu erkennen und sie seien in Göttingen sowieso niedrig
  • Rostock Lichtenhagen, Düsseldorf Wehrhahn, Oktoberfest, NSU, Solingen, München, Lübeck., die Liste rechter Gewalt scheint niemals zu enden.
  • Hanau – hier wäre der Täter auch bloss ein Psychisch Kranker gewesen, wenn er sich nicht selbst in seinem Bekennerschreiben als Rechtsextremer geoutet hätte. Und die Polizei und Behörden würden vermutlich heute noch mutmaßen ob hier Rassismus vorliegen könnte.

Nicht nur der rechtsextreme Täter von Hanau alleine und die anderen Täter rassistischer, antisemitischer Attentate zeigen uns was wir für ein strukturelles Problem wir haben in Deutschland. Auch die Polizei, verschiedene Behörden, die Stadt und die Staatsanwältinnen zeigen uns durch ihr unglaubliches Versagen wie Rassismus und Antisemitismus ein grundfester Bestandteil Deutschlands sind:

300m Luftlinie war die Polizei vom ersten Tatort in Hanau entfernt.

300m, dass ist eine halbe Minute Autofahrt. Die Polizei hatte bloss keine Lust an Ort und Stelle zu sein, weil sie eine sogenannte Bandenschießerei vermutete.

Die Behörden die dem Täter die Erlaubnis einer Waffenbesitzkarte gaben und die Behörden die bereits vor der Tat verschwörungsideologische antisemitische Briefe bekamen und entschieden haben nicht einzugreifen, dass sind alles Beweise.

Die Stadt die den Fluchtweg in einem der Tatorte versperren ließ damit die Polizei ihre Razzias da durchführen kann und die Staatsanwältin die eine sinnlose und rechtswidrige Obduktion von Hamza Kurtović eingeleitet hat BEVOR er überhaupt verstorben ist im Krankenhaus. Wie kann das möglich sein?? Die Eltern haben währenddessen verzweifelt versucht herauszufinden ob Hamza sich unter den Opfern befindet und wurden auf respektlose Weise von der Polizei weggeschickt. Das sind bei weitem nicht die einzigen Versäumnisse.

Aber lasst uns darüber reden wie Romnja und Sinti*zze bis heute in diesem Land behandelt werden… Es gab verdammt nochmal ein Genozid in diesem Land an Romn*ja und Sinti*zze. Mercedes Kierpacz war eine Romni. Vili Viorel Păun und Kaloyan Velkov waren Roma. Filip Goman der Vater von Mercedes hat erzählt, dass sein Großvater in Auschwitz war… Als er bis drei Uhr Nachts am Tatort gewartet hat, weil ihm zugesichert wurde er kann noch die Leiche seiner Tochter sehen um sich zu verabschieden. Dann kreuzt das SEK auf und richtet Waffen auf ihn und bedroht ihn…

Ja auf unserem Transpi da vorne steht es.. History doesn’t repeat itself, but it often rhymes.

Deutschland versagt und versagt und versagt. Mir liegt die Solidarität mit allen migrantischen Personen und Betroffenen von Rassismus sehr am Herzen. Aber es fällt mir besonders schwer mit anzuschauen wie dieses Land mit Rom_nja umgeht und uns Juden und Jüdinnen als Vorhängeschild ihrer angeblichen Wiedergutmachung benutzen. Solange es kein Bleiberecht für alle Romn*ja und Sinti*zze gibt es keine Wiedergutmachung.

Bleiberecht für alle Rom’nja!

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Heute gedenken wir Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu.

9 Menschen, die nur aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes ermordet wurden. Wir gedenken. Und ein würdiges Gedenken bedeutet nicht nur sich an die Opfer zu erinnern, sondern auch die Wünsche und Anliegen der hinterbliebenen Angehörigen zu respektieren. Das sind zum einen eine lückenlose Aufklärung der Tat und ein Zugeständnis des behördlichen Versagens und zum anderen eine deutliche Kampfansage dem Rassismus und Rechtsextremismus in diesem Land!

Ich selbst versuche mir immer wieder einzureden, in diesem Land sicher leben zu können. Doch wenn in Hanau, der Stadt in welcher ich aufgewachsen bin und in der meine Familie lebt, Menschen aus rassistischen Motiven niedergeschossen werden. Wenn in Halle ein rassistischer Täter versucht, Freunde von uns in einer Synagoge umzubringen. Flugblätter mit Hakenkreuzen auf das Gelände unserer Gemeinde geworfen werden. Wie soll ich mich da sicher fühlen? Wie soll ich mich da nicht mit dem zunehmenden rassistischen Bewegungen auseinandersetzen. Wenn nicht nur die Mehrheitsgesellschaft davon betroffen ist, sondern auch rechtsextreme Strukturen und Kreise in unseren Sicherheitsbehörden zu Tage treten.

Und trotzdem bin ich es Leid. Immer wieder wiederholen zu müssen, dass Antisemitismus kein jüdisches Problem, sondern eins unserer Gesellschaft ist. Das Rassismus nicht das Problem der von Rassismus Betroffenen ist, sondern eins unserer Gesellschaft. Das Islamfeindlichkeit, kein muslimisches Problem, sondern eins unserer Gesellschaft.

Und daher ist es auch die Aufgabe unserer Gesellschaft eben gegen diese Probleme vorzugehen. Es kann nicht sein, dass es ständig die Betroffenen sind, die um Anerkennung und Gleichberechtigung kämpfen müssen. Einem sehr großen Teil unserer Dominanzgesellschaft fehlt das Verständnis und die Fähigkeit strukturelle Unterdrückung, Verfolgung und Diskriminierung nachempfinden zu können.
In ihrer Wahrnehmung sind Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, Begriffe welche mit überhitzten und anstrengenden Debatten konnotiert sind mit welchen sie selbst ja nichts zu tun haben. Während diese Probleme ignoriert und verharmlost werden, merken sie nicht einmal, wie sie durch ihre Sprache Menschen ihrer Würde und Individualität berauben, sie stigmatisieren, kriminalisieren oder gar unsichtbar machen. Wenn es also um Rassismus geht, heißt es nicht nur, dass es ausreicht nach rechts und links zu schauen. Sondern auch anzufangen den eigenen Rassismus zu reflektieren! Ich bin es Leid. Ich bin wütend. Immer wieder über diese Dinge sprechen zu müssen, meine Identität von der Gesellschaft bestimmen zu lassen, welche mir sagt: Hey du bist Jude, erzähl uns was von Antisemitismus und dem Holocaust. Nein! Meine Identität ist viel mehr als das, ihr müsst euch selbst mit diesen Dingen auseinandersetzen. Sich mit Betroffenen zu solidarisieren, und ihre Perspektiven wahrzunehmen, bedeutet nicht nur diese als Aushängeschilder der eigenen Genugtuung zu missbrauchen, um hauptsache sich selbst als weniger problematisch darzustellen. Sondern es erfordert auch aktive eigene Arbeit gegen den Rechtsextremismus zu leisten, sei es auch nur im eigenen Freundeskreis, auf der Arbeit oder eben in der Politik und auf offener Straße.

Ich habe selbst mitbekommen wie der Anschlag sehr viele Menschen in Hanau stärker gemacht hat. Zu einer Community, die entschlossener denn je ist, sich gegen menschenverachtende Ideologien einzusetzen, diese sichtbar zu machen und zu verurteilen.

Wir erwarten, dass die ganze Gesellschaft in Deutschland dem gleich tut. Wir wollen und dürfen nicht darauf warten, bis auch andere Städte aufgrund mangelnder Bekämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus, sich das Schicksal von Hanau teilen müssen.

Abschließend hierzu noch ein sehr zutreffendes Zitat von Max Czollek: »Die Präsenz des Antifaschismus ist in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft ein Zeichen von Wehrhaftigkeit und bedarf keiner weiteren Rechtfertigung. Mangelt es ihm an Dominanz, müssen wir uns Sorgen machen.«

Und ganz ehrlich: Die machen wir uns!

 

Beitragsbild: Göttingen – Demonstration in Gedenken an Hanau am 19.2.2021. CC BY-NC-SA 2.0 Links Unten Göttingen /flickr